Gedichte und Vignetten - Beispiele

Gedichte

Gedichte sind eine eigene Spezies. Sie lassen sich schlecht planen, melden sich irgendwann und irgendwo. Darum muss ein Notizheft immer zur Hand sein. Gedichte sind in einem zweiten Sinn widerspenstig. Meint man vielleicht nach langer Nachtarbeit, das Gedicht sei fertig, sieht man am nächsten Tag, dass dem nicht so ist. Also beginnt man zu übermalen, Textstellen zu tauschen, umzuwandeln, bis es wirklich gut scheint. Ein halbes Jahr später zeigt sich das Gedicht wieder als unvollendet. Man kriegt Gedichte einfach nicht fertig. Ich liebe sie trotzdem. 
Neben freien schreibe ich ab und an Reimgedichte und halte mich an Formen und Rhythmen. Manchmal denke ich, ich tu das, um mir zu beweisen, dass ich das auch kann.
Irgendwo
Die Nacht umschlingt mich nie
immer bin ich irgendwo
Sensoren verfolgen mich
erteilen Befehle an
schreckliche Leuchten über
schrecklichen Eingängen
und gaukeln mir vor
mir könne nichts geschehen
in meiner kleinen Dunkelheit

Was, wenn ich vor die Türe träte
und nichts zu sehen wäre
ausser Millionen von Sternen
zum Beweis, dass die Dunkelheit
vollkommen ist, die mich empfängt.
Hätte ich den Mut, zehn Meter zu gehen
im lichtlosen Raum
um dort, in der nahen Unendlichkeit,
irgendwo zu sein, auf dieser Welt

Herbert Knutti 10. November, 2024 / Übermalt 20. November 2024
Konstellation
Mitten im Übergang
ein Selfie meiner Situation: 
Meine herumdriftenden Angelegenheiten 
vom Bildrand im Spiel gehalten
was die einzige Ordnung ist.

Die Konstellation ist in Übergängen
immer schwierig, antworte ich
meiner aufkommenden Verzweiflung
und lösche das Bild
wie ich es mit allen Bildern davor
auch gemacht habe -
noch nie haben sie
etwas anderes gezeigt. 

Herbert Knutti 02.03.2024
Sportsfreund – oder: Dichtertraining
Ein Sportsfreund sieht bei sich zu Haus 
Ein Fussballspiel vom Stuhle aus 
Für ihn das beste Sportgelände   

Sein Team spielt schwach 
Kriegt arg aufs Dach 
Hat keine Hoffnung auf die Wende   

Schon ganz verzweifelt ruft der Mann 
In seiner Not den Himmel an 
Dass dieser machtvoll Hilfe sende   

Der letzte Pfiff, es ist vorbei 
Schluss und aus mit 0:3 
Die Sieger reiben sich die Hände   

Der Sportsfreund sitzt und sitzt und sitzt 
Längst Licht und Bildschirm ausgeknipst 
Betrachtet dunkel dunkle Wände   

Wir lassen ihn dort besser sitzen 
Der Dichter käme selbst ins Schwitzen 
Vor Angst er fände hier kein gutes   

Ende     

Herbert Knutti, 01. Juni 2012

Vignetten

Vignetten sind den Gedichten nahe. Sie sind sensibel, weil sie sich von Stimmungen leiten lassen. Aber sie zeigen mir auch den Weg, wie und wo sich der Text bewegen soll. Sie sind hilfsbereit und ich mag sie sehr. 
Ein Beispiel aus einer unserer literarischen Kunstführungen.
unbekümmert

Im Atelier bist du unbekümmert
Du denkst nicht, wie wird sich das neue Werk verkaufen 
Du denkst nicht, es ist Zeit zum Essen 
Du denkst nicht, was mache ich in den Ferien 
Du denkst nicht, ich sollte mich beim Steueramt melden, dringend 
Du denkst nicht, vor zwei Jahren, die Ausstellung, lief richtig gut 
Du denkst nicht, es soll den Leuten gefallen 
Du denkst nicht, ich kann mir keine Fehlversuche mehr leisten 
Du denkst nicht, am Wochenende habe ich Besuch, was soll ich nur kochen 
Du denkst nicht, der Italiener, den ich liebe, geht leider zu 
Du denkst nicht, politisch läuft alles verkehrt 
Du denkst nicht, ich sollte nicht denken   

Und während all dieser unbedachten Zeit, hast du die Lösung endlich gefunden, wie dieser widerspenstige Beton in diese beweglichen Form aus Plastik gegossen werden kann, ohne sich zu verformen. Heureka.   

Du denkst nicht, das habe ich jetzt aber gut hingekriegt 
Du denkst nicht, so, jetzt kann ich aufräumen 
Du denkst nicht, jetzt mach ich tausend Abgüsse   

Während dieser unbedachten Zeit, tust du gar nichts. Du freust dich für dich! Und du stellst dir vor, den Menschen, der dir als nächstes begegnet, zu umarmen. Einfach so! Unbekümmert.     

Herbert Knutti 10.Januar 2024, leicht übermalt 20. Oktober 2024      
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